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Underground in der U-Bahn-Haltestelle

 
 

Mitte Oktober 1968 fand in der Kunsthalle am Neumarkt der zweite Kölner Kunstmarkt statt. In Absprache mit dem Kulturdezernenten Kurt Hackenberg und von der Stadt genehmigt, organisierte XSCREEN  ab dem 15. Oktober in der Baustelle der U-Bahn am Neumarkt eine fünftägige Veranstaltung „Underground Explosion“: Auf dem Programm standen Filme von Kenneth Anger, Lutz Mommartz, W+B Hein, Werner Nekes, Otto Muehl u.a. Es spielte die Band Noahs Arc, Rolf Dieter Brinkmann wurde zur Dichterlesung erwartet. 

Noch am 15. Oktober erschien im Kölner Stadt-Anzeiger ein Artikel mit dem Titel „Jeder kann seine Filme vorführen“. Auf Filme von Otto Muehl angeprochen, die bereits in München für Furore gesorgt hatten, meinte der Beigeordnete für Recht und Sicherheit: „Was soll's denn, da erklären wir uns nicht für zuständig... Und außerdem, wenn da auch einige umstrittene Szenen sind - man kann sich über alles streiten“.  So gelassen ging es allerdings nicht weiter.

Das Programm lief erfolgreich an, rund 1.000 Besucher kamen gleich am ersten Abend. In der Nacht des 16. Oktober 1968 sprengte dann die Polizei überraschend die Veranstaltung, beschlagnahmte 26 Filmrollen, kontrollierte Ausweise und führte Personen, die sich nicht ausweisen konnten, ab. Es kam zu tätlichen Auseinandersetzungen, Zuschauer durchbrachen die Polizeiabsperrung, wurden von Polizisten geschlagen. Grund für die Aktion mit rund 70 Polizeibeamten war eine Anzeige, nach der pornografische Filme in Anwesenheit von Jugendlichen gezeigt worden seien. Es wurde auf den § 184 (Verbreitung unzüchtiger Darstellungen) verwiesen.

„Wir haben später erfahren, dass die Aktion eine Attacke gegen den Kunstmarkt war, angezettelt von einem der einflussreichsten Kunsthändler Kölns gegen Hackenberg, den äußerst progressiven Kulturdezernenten der Stadt. Man wollte ihm durch diese Aktion schaden, weil man den Kunstmarkt als Konkurenz für die etablierte Kölner Kunstszene ansah,“ erinnert sich Birgit Hein 2004.

Für die Freiheit der Kunst

 

Auch in den folgenden Tagen gingen die Proteste gegen die Aktion weiter: Demonstranten belagerten das Polizeipräsidium und blockierten die Kreuzung der Nord-Süd-Fahrt, der Kunstmarkt war auch am Freitag wieder für mehrere Stunden nicht zugänglich. Der U-Bahnhof wurde von der Stadt bereits am Donnerstag aus „baupolizeilichen Gründen“ geschlossen.
In einem offenen Brief an Bundesjustizminister Heinemann forderten zahlreiche Künstler, Kunsthändler und Kulturschaffende die Abschaffung des § 184. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch kritisierte in einem Brief an Polizeipräsident Hochstein die Razzia gegen die kulturelle Veranstaltung und fürchtete um das Ansehen Kölns.

In den Tagen danach stellte sich heraus, dass weder ein Durchsuchungs- noch ein Beschlagnahmungsbefehl vorgelegen hatten. Der Jugendwohlfahrtsausschuss wollte mit dem Polizeipräsidenten über die Angemessenheit der Aktion sprechen. Und Kulturdezernent Hackenberg setzte sich vor dem Rat der Stadt Köln weiterhin für die Freiheit der Kunst ein. Dennoch wurde gegen XSCREEN (wegen eines Films von Otto Muehl) wegen des Verdachts der Verbreitung unzüchtiger Schriften ermittelt. Das Verfahren wurde erst im Mai 1969 eingestellt. 

Protest in der Oper

 

Am folgenden Tag versperrten Demonstranten aus Protest gegen die Polizeiaktion den Eingang des Kunstmarktes. Die Veranstalter solidarisierten sich und schlossen für mehrere Stunden am Abend die Ausstellung. Eine andere Gruppe stürmte währenddessen das Opernhaus, die „Troubadour“-Aufführung wurde unterbrochen. 

„Die herbeigeeilten Hausherren, Kulturdezernent Dr. Hackenberg und Generalintendant Dr. Drese zeigen Format und versuchen dem Publikum zu vermitteln, dass etwas vorgefallen sei, was Außenstehende veranlasst habe, in berechtigter Erregung ins Theater zu kommen. Der Opernsänger Arturo Sergi versucht im Kostüm des Manrico mit dem Megaphon Kontakt mit den Zuschauern aufzunehmen. Doch die sind nicht zu bändigen. ... Es ist an diesem Abend nicht mehr zu unterscheiden, wer radikaler, intoleranter, ausfallender, rebellischer ist, die Demonstranten aus dem Untergrund oder die Opernfreunde,“ schreibt Wilfried Reichart in der Rückschau. 

Ein zehnminütiger Bericht in der Sendung Hier und Heute über „Eröffnung neuer Galerien und Treffpunkt des Underground-Films“ im WDR geht vor allem ausführlich auf die Kunstszene, Galerien und den Kölner Kunstmarkt ein. Dann schwenkt die Kamera zur Baustelle zwischen Kunsthalle, VHS und Neumarkt, wo es in den Untergrund geht: Hier findet die Veranstaltung von XSCREEN statt, mit „psychodelischer Musik und oft wirren Dokumenten menschlichen Bemühens gegen die schöne Kinowelt anzurennen“, so der Kommentar. 
Die Razzia am Vorabend hatte bereits stattgefunden. Der Bericht vom 17. Oktober 1968 kommentiert das eher beiläufig, weiß noch nichts von den folgenden Demonstrationen, Kunstmarktschließungen und den Protesten gegen Beschlagnahmung und Polizeivorgehen. 

Reaktionen von Schriftstellern

 

Nur wenige Tage nach dem Skandal erhielt der Schriftsteller Jürgen Becker den „Literaturpreis der Stadt Köln“. In seiner Dankesrede ging er auch auf die Polizeiaktion ein:
„Der Kölner Skandal bedarf also einer Differenzierung, von der ich selbst die Polizei dieser Stadt nicht ausnehmen möchte. Indem ich hier gegen ihr Vorgehen aufs Schärfste protestiere... erkenne ich zugleich an, daß sie auf die Gelegenheit verzichtet hat, nach den internationalen Beispielen ihrer schlagkräftigen Kollegen die von Demonstranten besetzte Straße freizuprügeln... die reparierten Verhältnisse täuschten nicht über den unversöhnten Gegensatz von Kunst und Gesellschaft hinweg. Denn die  Ereignisse in der vergangenen Wochen, die zu jeder Zeit und an jedem Ort wiederholbar sind: Sie bleiben modellhaft für die Art und Weise, wie Kunst die Öffentlichkeit zu provozieren und wie sich die Öffentlichkeit solcher Provokation zu erwehren vermag.“ 

Ganz andere Töne schlug der Kölner Schriftsteller Rolf-Dieter Brinkmann an, der selbst von der Polizeiaktion betroffen war, in einem Artikel anlässlich der Preisverleihung:
„Beides gehört zusammen: der Polizeieinsatz gegen Kunstwerke und die Auszeichnung von Künstlern, denn in beiden Fällen ist das Verständnis von dem, was „Kunst“ ist, das gleiche: ein harmlos kläffender Köter, darauf trainiert, die Fotzen auszulecken – freundlicher kleiner Nippes, den man abends seinen Frauen nach Hause bringt. Und in beiden Fällen kommt der Zynismus einer abgelebten älteren Generation deutlich zum Vorschein: man demonstriert, wer tatsächlich die Macht hat, wer sich also auch im Recht befindet: der Polzeipräsident der Stadt Köln, die Stadtväter... Köln nennt sich gerne eine „kunstfreundliche“ Stadt: Blicke ich mich um, sehe ich sie nicht! Ich vermute: Es muß am Karneval liegen, am berühmten „Kölner Humor“, daß man sich ein Attribut zulegt, ohne daß die betreffende Eigenschaft vorhanden wäre.“ (aus: „1968 am Rhein“ Hg. Kurt Holl, Claudia Glunz, Köln 1983)

Und der Kölner Schriftsteller Paul Schallück nahm noch im November 1968 in einem Artikel im Kölner Stadt-Anzeiger dezidiert Stellung:
„Kunst ist Provokation sui generis, vor allem die zeitgenössische... Ich verteidige nicht den beschlagnahmten Film, ich verteidige das Recht der Filmleute, ihre Filme zu machen, sie zu zeigen, also der öffentlichen Kritik auszusetzen... und ich betrachte es als eine ungehörige Anmaßung, einen Film, welches künstlerische Prädikat er immer verdient, aus der lebendigen Diskussion zu ziehen, indem man ihn, kraft eines subjektiv ausgelegten Gesetzes als unzüchtig klassifiziert.“